Studiengebühren
11 Thesen gegen Studiengebühren
Die nordrhein-westfälische Wissenschaftsministerin Anke Brunn (SPD) veröffentlichte am 13. Mai 1996 ihre 11 Thesen für ein Studium ohne Studiengebühren. Deren Aktualität begründet den erneuten Abdruck für den Streik der Jahre 2003 und 2004.
1.
Ich wende mich gegen den Irrtum, wir hätten derzeit zu viele Studenten.
Wer Studiengebühren, Hochschulaufnahmeprüfungen und einen verschärften Numerus clausus propagiert, um die Universitäten wieder zu einer Bildungsstätte für eine kleine Elite zu machen, isoliert die Bundesrepublik in der internationalen Bildungs- und Hochschulentwicklung und gefährdet damit auch den Wirtschaftsstandort Deutschland. Denn alle Arbeitsmarktprognosen und internationalen Vergleiche zeigen, dass Deutschland eher zu wenige als zu viele Studierende hat. In den meisten unserer Nachbarländer studieren pro Altersjahrgang weitaus mehr junge Menschen. Die Bundesrepublik belegt nach einem jüngsten OECD-Vergleich einen der unteren Plätze.
Abschreckung durch Studiengebühren ist deshalb fehl am Platz. Nach wie vor hören wir aus vielen bildungspolitischen Diskussionen eine unbegründete Angst vor einer weiteren Akademisierung unserer Gesellschaft heraus. Kurioserweise kommen diese Klagen über angeblich zu hohe Studierendenzahlen meist von Akademikern. Sie tun dies entweder aus Irrationalität oder aus Angst um die Berufschancen ihrer eigenen studierenden Kinder.
Der gewünschte Abschreckungseffekt durch Studiengebühren wird selten offen ausgesprochen, ist aber doch bei näherer Analyse der eigentliche Ausgangspunkt vieler Argumentationen.
2.
Ich wende mich gegen den Irrtum, bei Einführung von Studiengebühren lasse sich soziale Selektion vermeiden.
Wir wissen aus vielen Untersuchungen, dass Kinder aus einkommensschwächeren Familien nicht so risikofreudig sind und oft Angst vor hoher Verschuldung bei unsicherer Berufsperspektive haben – anders als die Kinder von Akademikern. Nach dem BAföG-Kahlschlag der Bundesregierung 1982 /83 mit der Umstellung der Ausbildungsförderung auf ein Volldarlehen waren es zuerst die Arbeiterkinder und vor allem die Mädchen, die auf ein Studium verzichteten. Die anhaltende BAföG-Sparpolitik der Bonner Regierungskoalition tat auch in den folgenden Jahren ein übriges: Der Anteil der Studierenden aus finanziell besser gestellten Familien hat sich von 43 Prozent (1982) auf 58 Prozent (1994) deutlich erhöht, während der Anteil von Studierenden aus einkommensschwächeren Familien im gleichen Zeitraum von 23 Prozent auf 14 Prozent gefallen ist.
Ich will nicht, dass mit Studiengebühren neue und zusätzliche soziale Barrieren entstehen. Studiengebühren drängen Leistungsfähigkeit und Bereitschaft als Motiv für die Aufnahme eines Studiums in den Hintergrund und ersetzen es durch die Bereitschaft und Fähigkeit des einzelnen, materielle Belastungen bei gleichzeitiger Unsicherheit über die späteren Berufsaussichten auf sich zu nehmen.
3.
Ich wende mich gegen den Irrtum, Studiengebühren würden zu einem zügigeren Studium, also der Verkürzung der Studienzeiten führen.
Das Gegenteil wird vielmehr der Fall sein. Bei Einführung von Studiengebühren wäre ein nach größerer Teil der Studierenden gezwungen, erwerbstätig zu sein, um diese Kosten zusätzlich zum eigenen Lebensunterhalt aufzubringen. Wir wissen, dass BAföG-Empfänger ihr Studium durchschnittlich schneller beenden als andere. Reicht die Förderung des Staates und der Eltern zum Lebensunterhalt nicht aus, verlängert sich die Studienzeit überproportional. Dies ist besonders in den Großstädten Berlin, Hamburg, Köln und München zu beobachten, wo die Studiendauer im Durchschnitt um 1,5 Semester länger ist. In diesen Orten sind auch die Studien- und Lebenshaltungskosten höher.
Nordrhein-Westfalen hat als erstes Bundesland verbindliche Regelstudienzeiten in sein Hochschulgesetz hineingeschrieben. Dies ist ein Auftrag an die Hochschulen, das Studium durch innere Reform und Beseitigung überflüssiger Stofffülle wieder in angemessener Zeit studierbar zu machen. Dieses Regelstudium ist ein Angebot an die Studierenden. Wer länger studiert, weil er als Germanistik-Student noch EDV-Seminare belegt oder als Maschinenbau-Studentin noch Fremdsprachen lernt, soll das auch künftig können – ohne gleich für ein zusätzliches Semester 500 € drauflegen zu müssen. Solche qualifizierende Zusatzangebote könnten nur noch die wahrnehmen, die es sich leisten können.
4.
Ich wende mich gegen den Irrtum, dass sich die Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden an den Hochschulen anders als über Geld und Markt nicht vernünftig gestalten lassen.
Lehre, gute Ausbildung und Forschung an der Hochschule sind für die Gesellschaft mehr als eine Ware, deren Preis man auf die Studierenden als zahlende Kunden abwälzen kann. Der Auftrag der Hochschule ist nicht allein auf die individuelle Ausbildung des einzelnen Studenten reduzierbar. Hochschulen sind dem Gemeinwohl verpflichtet, und ihre Leistungen dienen der wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung des ganzen Landes. Auch an der heutigen Massenhochschule ist der Student Teil einer Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, nicht etwa ein „Kunde“, der sich für 500 € pro Semester von seinem Professor Ausbildung und Diplom „erkauft“. Die üblichen Kategorien des Marktes wie Angebot und Nachfrage, Preis und Profit sind für die Hochschulen nicht einfach übertragbar.
5.
Ich wende mich gegen den Irrtum, mit der Einführung von Studiengebühren ließen sich an den Hochschulen schlagartig Lehrqualität und Studienorganisation verbessern, weil der Student dann als „Kunde“ auftreten kann.
Auch hierbei versagt allein Geld als Steuerungsinstrument. Dies gilt zumindest, solange wie Studierende keine echte Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Angeboten haben. Angesichts steigender Schulabsolventenzahlen sind aber Studienplätze in den nächsten zehn Jahren ein knappes Gut, und wir werden alles daran setzen müssen, einen schärferen Numerus clausus zu verhindern. Gerade die Verfechter der reinen Marktwirtschafslehre an den Hochschulen sollten wissen, dass Markt und Wettbewerb nur dann richtig funktionieren, wenn auch das Angebot groß genug ist und StudentInnen und Studenten die Möglichkeit der Auswahl und zum Wechsel haben. Bei knappem Angebot verfügen die Nachfrager über keine Marktmacht. Dadurch entfallen auch verhaltenssteuernde Signale.
Wir setzen statt dessen für gute Lehre und eine bessere Studien- und Prüfungsorganisation auf Einsicht und berufliches Selbstverständnis der Hochschullehrer, auf Evaluation und einen hochschulöffentlichen, kritischen Dialog von Lernenden und Lehrenden, auf Weiterbildungs- und Beratungsangebote für die Dozenten durch die Hochschuldidaktiker. Dafür haben wir in Nordrhein-Westfalen das Programm „Qualität der Lehre“ aufgelegt. Bei neuen Berufungen von Professoren sollen künftig nicht nur die Forschungsleistung sondern auch das Engagement in der Lehre wichtiges Entscheidungskriterium sein.
7.
Ich wende mich gegen den Irrtum, mit zwei Milliarden Euro aus den Studententaschen in die Hochschulkassen wären alle Probleme der Universitäten und Fachhochschulen gelöst.
Selbst die Befürworter der Gebührenmodelle räumen ein, dass sich ein solcher Betrag mit Studiengebühren schwerlich erwirtschaften lässt. Ein großer Teil des Gebührenaufkommens würde von Verwaltungskosten und unverzichtbaren Stipendien aufgezehrt. Der Staat müsste die Gebühren zumindest für die BAföG-Empfänger übernehmen. Gleichzeitig entstünden neue Steuerausfälle, weil Eltern bei der Einkommenssteuer einen höheren Ausbildungsfreibetrag für ihre Kinder geltend machen werden – wobei im übrigen die Besserverdienenden erneut begünstigt werden. Die Kosten des Gebührenmodells müssten den Hochschulen in Rechnung gestellt werden.
Der Streit um Studiengebühren ist eine Fluchtdebatte, die von dem Problem der Hochschulen ablenkt. Studiengebühren bringen weder die Studienreform voran noch werden damit die drängenden Nachwuchsprobleme der Hochschulen angesichts der bevorstehenden Pensionierungswelle bei den Professoren gelöst. Studierende dürfen nicht als Geiseln der Finanzprobleme des Hochschulsystems genommen werden.
7.
Ich wende mich gegen den Irrtum, man könne den Familien und der nachwachsenden Generation immer neue Kosten und Belastungen aufbürden.
Studiengebühren verletzen den Generationenvertrag. Wir hinterlassen den jungen Menschen keine heile Umwelt, belasten sie mit einer Billion Euro Staatsschulden und ungelösten Problemen der Rentenkassen. Nun sollen diese Jugendlichen auch noch für ihre Ausbildung selbst bezahlen, während ihre Eltern gebührenfrei studieren konnten. Nicht die Studenten tragen die Verantwortung für die Finanzkrise der Hochschulen. Es ist Aufgabe des Staates, also Aufgabe der gesamten Gesellschaft, für eine vernünftige Ausstattung der Hochschulen zu sorgen.
8.
Ich wende mich gegen den Irrtum, der junge Facharbeiter oder die Jungverkäuferin bezahle mit ihrer Steuerlast in unangemessener Relation die Studienkosten für den gleichaltrigen Medizinersohn oder die Managertochter; Studiengebühren würden deshalb zu mehr Verteilungsgerechtigkeit führen.
Wenn Wirtschaftsforscher fest stellen, dass Nicht-Akademiker mit geringerem Einkommen durch ihre Steuern relativ mehr zur Finanzierung der deutschen Hochschulen beitragen als gut verdienende Akademiker, ist dies zunächst nur ein Hinweis auf ungleiche Bildungschancen, Ungerechtigkeiten im Steuersystem, nicht aber ein Argument zur Erhebung von Studiengebühren. An Hand von Modellrechnungen lässt sich zeigen, dass Studiengebühren entgegen der Annahme ihrer Befürworter kaum zu mehr Verteilungsgerechtigkeit führen.
Falsch ist dieser neue steuerökonomische Ansatz in der Studiengebührendebatte aber auch deshalb, weil er völlig außer Acht lässt, dass qualifizierte Hochschulausbildung auch dem Gemeinwohl dient. Die gesamte Gesellschaft braucht natürlich Lehrer, Ärzte, Juristen, Ingenieure, Informatiker, Manager, Naturwissenschaftler – und auch Philosophen. Durch Studium qualifizierte Fachkräfte sichern letztlich auch den Arbeitsplatz der Jungverkäuferin und des Jungfacharbeiters. Die Reduktion des Nutzens der Hochschulausbildung nur auf das individuelle Lebenseinkommen des Akademikers hält einer empirischen Analyse nicht stand.
Verteilungsgerechtigkeit in der Gesellschaft wird am sinnvollsten über ein gerechtes Steuersystem hergestellt, das alle Bürger nach ihren Einnahmen und Vermögen besteuert. Dabei dürfen akademische Berufe nicht länger von bestimmten Steuern ausgenommen werden, wie zum Beispiel alle „freiberuflichen“ Tätigkeiten von der Gewerbesteuer, Arztpraxen darüber hinaus von der Umsatzsteuer – wie sie in jüngster Zeit ebenfalls diskutiert wird - , sind ein weiterer Schritt zur Entsolidarisierung und zur Verzettelung innerhalb des Steuersystems. Wir wollen keine Akademiker-Strafsteuer, die die Aneignung von mehr Wissen bestraft.
9.
Ich wende mich gegen den Irrtum, zusätzliche Einnahmen durch Studiengebühren würden mit Sicherheit in den Kassen der Hochschulen bleiben und nicht die Begehrlichkeit der Finanzminister wecken.
Angesichts der Sparzwänge kann das Spiel der Hochschulen mit Studiengebühren schnell zu einem „Nullsummenspiel“ werden. Bei der in Berlin beschlossenen „Einschreibegebühr“ von 50 € pro Semester, die von den Studenten zurecht als Einstieg in ein Studiengebührenmodell gesehen wird, erwartet der Senat Mehreinnahmen von 12,5 Millionen Euro pro Jahr – bei rund 145.000 Studenten in Berlin [1995]. Das Geld wird etwa nicht für eine höhere Ausstattung der Hochschulen ausgegeben sondern dient der allgemeinen Haushaltssanierung.
10.
Ich wende mich gegen den Irrtum, in Europa würden allenthalben Studiengebühren erhoben und Deutschland isolierte sich mit seiner Gebührenfreiheit.
Die Analyse zeigt dagegen: Nicht nur in Deutschland, auch in Österreich, Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland, Luxemburg und Griechenland werden keine Studiengebühren erhoben. Auch in Großbritannien wird von den Studierenden faktisch keine Studiengebühr bezahlt. In Frankreich gibt es eine Mischung aus einer Verwaltungs- und Sozialgebühr, ähnlich wie die bei uns üblichen Sozial- und Studentenschaftsbeiträge.
Studiengebühren im eigentlichen Sinne, also als direkte Beteiligung der Studierenden an den Hochschulkosten, werden dagegen nur in Belgien, Italien, der Schweiz, Spanien und Portugal verlangt. In den Niederlanden gehen die Studiengebühren voll in den Lebenshaltungskostenindex der Studenten ein, auf dessen Grundlage die Höhe der Ausbildungsförderung berechnet wird, also eine direkte Refinanzierung der Gebühren durch den Staat.
Ich empfehle den Apologeten von Studiengebühren nicht nur nach Australien zu schauen, weil dort angeblich alles so vortrefflich mit Gebühren funktioniert. Ein Blick nach Irland ist auch hilfreich, denn dort werden gerade die Studiengebühren abgeschafft.
11.
Ich wende mich gegen den Irrtum, mit einer Flucht in die Privatisierung ließen sich die in der Tat großen Probleme unseres gesamten Bildungswesens lösen.
Der Ruf nach mehr Geld allein führt nicht weiter. In Deutschland wurden Studiengebühren Ende der 60er Jahre aus guten Gründen abgeschafft. Wer den „Sündenfall“ der Kindergartengebühren als Argument für die Wiedereinführung von Studiengebühren heranzieht, der müsste - um bei dieser Logik zu bleiben – auch für die Wiedereinführung von Schulgeld und Lehrgeld bei der beruflichen Bildung eintreten. Viele Ältere werden sich noch unliebsam daran erinnern. Wir wollen aber keinen sozialen Rückschritt.
Die Finanzdebatte über Steuern, Gebühren und zusätzliche Belastungen für Eltern und die junge Generation sind Bestandteil eines neokonservativen Diskurses. Der Ruf nach Studiengebühren ist zu verstehen als Neuaufguss einer alten Argumentation. Alle Gründe, die 1992 dazu führten, die 11. These des Wissenschaftsrates mit der Forderung nach Studiengebühren ersatzlos zu versenken, gelten nach wie vor.
Im übrigen: 500 € Studiengebühren pro Semester – das macht rund 14 Prozent des studentischen Einkommens im Halbjahr aus. Warum kommen gut verdienende Befürworter von Studiengebühren nicht auf die Idee, selbst 14 Prozent ihres Einkommens als „Solidaropfer“ freiwillig ihrer ehemaligen Hochschule zukommen zu lassen?
Die nordrhein-westfälische Wissenschaftsministerin Anke Brunn (SPD) veröffentlichte am 13. Mai 1996 ihre 11 Thesen für ein Studium ohne Studiengebühren. Deren Aktualität begründet den erneuten Abdruck für den Streik der Jahre 2003 und 2004.
1.
Ich wende mich gegen den Irrtum, wir hätten derzeit zu viele Studenten.
Wer Studiengebühren, Hochschulaufnahmeprüfungen und einen verschärften Numerus clausus propagiert, um die Universitäten wieder zu einer Bildungsstätte für eine kleine Elite zu machen, isoliert die Bundesrepublik in der internationalen Bildungs- und Hochschulentwicklung und gefährdet damit auch den Wirtschaftsstandort Deutschland. Denn alle Arbeitsmarktprognosen und internationalen Vergleiche zeigen, dass Deutschland eher zu wenige als zu viele Studierende hat. In den meisten unserer Nachbarländer studieren pro Altersjahrgang weitaus mehr junge Menschen. Die Bundesrepublik belegt nach einem jüngsten OECD-Vergleich einen der unteren Plätze.
Abschreckung durch Studiengebühren ist deshalb fehl am Platz. Nach wie vor hören wir aus vielen bildungspolitischen Diskussionen eine unbegründete Angst vor einer weiteren Akademisierung unserer Gesellschaft heraus. Kurioserweise kommen diese Klagen über angeblich zu hohe Studierendenzahlen meist von Akademikern. Sie tun dies entweder aus Irrationalität oder aus Angst um die Berufschancen ihrer eigenen studierenden Kinder.
Der gewünschte Abschreckungseffekt durch Studiengebühren wird selten offen ausgesprochen, ist aber doch bei näherer Analyse der eigentliche Ausgangspunkt vieler Argumentationen.
2.
Ich wende mich gegen den Irrtum, bei Einführung von Studiengebühren lasse sich soziale Selektion vermeiden.
Wir wissen aus vielen Untersuchungen, dass Kinder aus einkommensschwächeren Familien nicht so risikofreudig sind und oft Angst vor hoher Verschuldung bei unsicherer Berufsperspektive haben – anders als die Kinder von Akademikern. Nach dem BAföG-Kahlschlag der Bundesregierung 1982 /83 mit der Umstellung der Ausbildungsförderung auf ein Volldarlehen waren es zuerst die Arbeiterkinder und vor allem die Mädchen, die auf ein Studium verzichteten. Die anhaltende BAföG-Sparpolitik der Bonner Regierungskoalition tat auch in den folgenden Jahren ein übriges: Der Anteil der Studierenden aus finanziell besser gestellten Familien hat sich von 43 Prozent (1982) auf 58 Prozent (1994) deutlich erhöht, während der Anteil von Studierenden aus einkommensschwächeren Familien im gleichen Zeitraum von 23 Prozent auf 14 Prozent gefallen ist.
Ich will nicht, dass mit Studiengebühren neue und zusätzliche soziale Barrieren entstehen. Studiengebühren drängen Leistungsfähigkeit und Bereitschaft als Motiv für die Aufnahme eines Studiums in den Hintergrund und ersetzen es durch die Bereitschaft und Fähigkeit des einzelnen, materielle Belastungen bei gleichzeitiger Unsicherheit über die späteren Berufsaussichten auf sich zu nehmen.
3.
Ich wende mich gegen den Irrtum, Studiengebühren würden zu einem zügigeren Studium, also der Verkürzung der Studienzeiten führen.
Das Gegenteil wird vielmehr der Fall sein. Bei Einführung von Studiengebühren wäre ein nach größerer Teil der Studierenden gezwungen, erwerbstätig zu sein, um diese Kosten zusätzlich zum eigenen Lebensunterhalt aufzubringen. Wir wissen, dass BAföG-Empfänger ihr Studium durchschnittlich schneller beenden als andere. Reicht die Förderung des Staates und der Eltern zum Lebensunterhalt nicht aus, verlängert sich die Studienzeit überproportional. Dies ist besonders in den Großstädten Berlin, Hamburg, Köln und München zu beobachten, wo die Studiendauer im Durchschnitt um 1,5 Semester länger ist. In diesen Orten sind auch die Studien- und Lebenshaltungskosten höher.
Nordrhein-Westfalen hat als erstes Bundesland verbindliche Regelstudienzeiten in sein Hochschulgesetz hineingeschrieben. Dies ist ein Auftrag an die Hochschulen, das Studium durch innere Reform und Beseitigung überflüssiger Stofffülle wieder in angemessener Zeit studierbar zu machen. Dieses Regelstudium ist ein Angebot an die Studierenden. Wer länger studiert, weil er als Germanistik-Student noch EDV-Seminare belegt oder als Maschinenbau-Studentin noch Fremdsprachen lernt, soll das auch künftig können – ohne gleich für ein zusätzliches Semester 500 € drauflegen zu müssen. Solche qualifizierende Zusatzangebote könnten nur noch die wahrnehmen, die es sich leisten können.
4.
Ich wende mich gegen den Irrtum, dass sich die Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden an den Hochschulen anders als über Geld und Markt nicht vernünftig gestalten lassen.
Lehre, gute Ausbildung und Forschung an der Hochschule sind für die Gesellschaft mehr als eine Ware, deren Preis man auf die Studierenden als zahlende Kunden abwälzen kann. Der Auftrag der Hochschule ist nicht allein auf die individuelle Ausbildung des einzelnen Studenten reduzierbar. Hochschulen sind dem Gemeinwohl verpflichtet, und ihre Leistungen dienen der wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung des ganzen Landes. Auch an der heutigen Massenhochschule ist der Student Teil einer Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, nicht etwa ein „Kunde“, der sich für 500 € pro Semester von seinem Professor Ausbildung und Diplom „erkauft“. Die üblichen Kategorien des Marktes wie Angebot und Nachfrage, Preis und Profit sind für die Hochschulen nicht einfach übertragbar.
5.
Ich wende mich gegen den Irrtum, mit der Einführung von Studiengebühren ließen sich an den Hochschulen schlagartig Lehrqualität und Studienorganisation verbessern, weil der Student dann als „Kunde“ auftreten kann.
Auch hierbei versagt allein Geld als Steuerungsinstrument. Dies gilt zumindest, solange wie Studierende keine echte Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Angeboten haben. Angesichts steigender Schulabsolventenzahlen sind aber Studienplätze in den nächsten zehn Jahren ein knappes Gut, und wir werden alles daran setzen müssen, einen schärferen Numerus clausus zu verhindern. Gerade die Verfechter der reinen Marktwirtschafslehre an den Hochschulen sollten wissen, dass Markt und Wettbewerb nur dann richtig funktionieren, wenn auch das Angebot groß genug ist und StudentInnen und Studenten die Möglichkeit der Auswahl und zum Wechsel haben. Bei knappem Angebot verfügen die Nachfrager über keine Marktmacht. Dadurch entfallen auch verhaltenssteuernde Signale.
Wir setzen statt dessen für gute Lehre und eine bessere Studien- und Prüfungsorganisation auf Einsicht und berufliches Selbstverständnis der Hochschullehrer, auf Evaluation und einen hochschulöffentlichen, kritischen Dialog von Lernenden und Lehrenden, auf Weiterbildungs- und Beratungsangebote für die Dozenten durch die Hochschuldidaktiker. Dafür haben wir in Nordrhein-Westfalen das Programm „Qualität der Lehre“ aufgelegt. Bei neuen Berufungen von Professoren sollen künftig nicht nur die Forschungsleistung sondern auch das Engagement in der Lehre wichtiges Entscheidungskriterium sein.
7.
Ich wende mich gegen den Irrtum, mit zwei Milliarden Euro aus den Studententaschen in die Hochschulkassen wären alle Probleme der Universitäten und Fachhochschulen gelöst.
Selbst die Befürworter der Gebührenmodelle räumen ein, dass sich ein solcher Betrag mit Studiengebühren schwerlich erwirtschaften lässt. Ein großer Teil des Gebührenaufkommens würde von Verwaltungskosten und unverzichtbaren Stipendien aufgezehrt. Der Staat müsste die Gebühren zumindest für die BAföG-Empfänger übernehmen. Gleichzeitig entstünden neue Steuerausfälle, weil Eltern bei der Einkommenssteuer einen höheren Ausbildungsfreibetrag für ihre Kinder geltend machen werden – wobei im übrigen die Besserverdienenden erneut begünstigt werden. Die Kosten des Gebührenmodells müssten den Hochschulen in Rechnung gestellt werden.
Der Streit um Studiengebühren ist eine Fluchtdebatte, die von dem Problem der Hochschulen ablenkt. Studiengebühren bringen weder die Studienreform voran noch werden damit die drängenden Nachwuchsprobleme der Hochschulen angesichts der bevorstehenden Pensionierungswelle bei den Professoren gelöst. Studierende dürfen nicht als Geiseln der Finanzprobleme des Hochschulsystems genommen werden.
7.
Ich wende mich gegen den Irrtum, man könne den Familien und der nachwachsenden Generation immer neue Kosten und Belastungen aufbürden.
Studiengebühren verletzen den Generationenvertrag. Wir hinterlassen den jungen Menschen keine heile Umwelt, belasten sie mit einer Billion Euro Staatsschulden und ungelösten Problemen der Rentenkassen. Nun sollen diese Jugendlichen auch noch für ihre Ausbildung selbst bezahlen, während ihre Eltern gebührenfrei studieren konnten. Nicht die Studenten tragen die Verantwortung für die Finanzkrise der Hochschulen. Es ist Aufgabe des Staates, also Aufgabe der gesamten Gesellschaft, für eine vernünftige Ausstattung der Hochschulen zu sorgen.
8.
Ich wende mich gegen den Irrtum, der junge Facharbeiter oder die Jungverkäuferin bezahle mit ihrer Steuerlast in unangemessener Relation die Studienkosten für den gleichaltrigen Medizinersohn oder die Managertochter; Studiengebühren würden deshalb zu mehr Verteilungsgerechtigkeit führen.
Wenn Wirtschaftsforscher fest stellen, dass Nicht-Akademiker mit geringerem Einkommen durch ihre Steuern relativ mehr zur Finanzierung der deutschen Hochschulen beitragen als gut verdienende Akademiker, ist dies zunächst nur ein Hinweis auf ungleiche Bildungschancen, Ungerechtigkeiten im Steuersystem, nicht aber ein Argument zur Erhebung von Studiengebühren. An Hand von Modellrechnungen lässt sich zeigen, dass Studiengebühren entgegen der Annahme ihrer Befürworter kaum zu mehr Verteilungsgerechtigkeit führen.
Falsch ist dieser neue steuerökonomische Ansatz in der Studiengebührendebatte aber auch deshalb, weil er völlig außer Acht lässt, dass qualifizierte Hochschulausbildung auch dem Gemeinwohl dient. Die gesamte Gesellschaft braucht natürlich Lehrer, Ärzte, Juristen, Ingenieure, Informatiker, Manager, Naturwissenschaftler – und auch Philosophen. Durch Studium qualifizierte Fachkräfte sichern letztlich auch den Arbeitsplatz der Jungverkäuferin und des Jungfacharbeiters. Die Reduktion des Nutzens der Hochschulausbildung nur auf das individuelle Lebenseinkommen des Akademikers hält einer empirischen Analyse nicht stand.
Verteilungsgerechtigkeit in der Gesellschaft wird am sinnvollsten über ein gerechtes Steuersystem hergestellt, das alle Bürger nach ihren Einnahmen und Vermögen besteuert. Dabei dürfen akademische Berufe nicht länger von bestimmten Steuern ausgenommen werden, wie zum Beispiel alle „freiberuflichen“ Tätigkeiten von der Gewerbesteuer, Arztpraxen darüber hinaus von der Umsatzsteuer – wie sie in jüngster Zeit ebenfalls diskutiert wird - , sind ein weiterer Schritt zur Entsolidarisierung und zur Verzettelung innerhalb des Steuersystems. Wir wollen keine Akademiker-Strafsteuer, die die Aneignung von mehr Wissen bestraft.
9.
Ich wende mich gegen den Irrtum, zusätzliche Einnahmen durch Studiengebühren würden mit Sicherheit in den Kassen der Hochschulen bleiben und nicht die Begehrlichkeit der Finanzminister wecken.
Angesichts der Sparzwänge kann das Spiel der Hochschulen mit Studiengebühren schnell zu einem „Nullsummenspiel“ werden. Bei der in Berlin beschlossenen „Einschreibegebühr“ von 50 € pro Semester, die von den Studenten zurecht als Einstieg in ein Studiengebührenmodell gesehen wird, erwartet der Senat Mehreinnahmen von 12,5 Millionen Euro pro Jahr – bei rund 145.000 Studenten in Berlin [1995]. Das Geld wird etwa nicht für eine höhere Ausstattung der Hochschulen ausgegeben sondern dient der allgemeinen Haushaltssanierung.
10.
Ich wende mich gegen den Irrtum, in Europa würden allenthalben Studiengebühren erhoben und Deutschland isolierte sich mit seiner Gebührenfreiheit.
Die Analyse zeigt dagegen: Nicht nur in Deutschland, auch in Österreich, Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland, Luxemburg und Griechenland werden keine Studiengebühren erhoben. Auch in Großbritannien wird von den Studierenden faktisch keine Studiengebühr bezahlt. In Frankreich gibt es eine Mischung aus einer Verwaltungs- und Sozialgebühr, ähnlich wie die bei uns üblichen Sozial- und Studentenschaftsbeiträge.
Studiengebühren im eigentlichen Sinne, also als direkte Beteiligung der Studierenden an den Hochschulkosten, werden dagegen nur in Belgien, Italien, der Schweiz, Spanien und Portugal verlangt. In den Niederlanden gehen die Studiengebühren voll in den Lebenshaltungskostenindex der Studenten ein, auf dessen Grundlage die Höhe der Ausbildungsförderung berechnet wird, also eine direkte Refinanzierung der Gebühren durch den Staat.
Ich empfehle den Apologeten von Studiengebühren nicht nur nach Australien zu schauen, weil dort angeblich alles so vortrefflich mit Gebühren funktioniert. Ein Blick nach Irland ist auch hilfreich, denn dort werden gerade die Studiengebühren abgeschafft.
11.
Ich wende mich gegen den Irrtum, mit einer Flucht in die Privatisierung ließen sich die in der Tat großen Probleme unseres gesamten Bildungswesens lösen.
Der Ruf nach mehr Geld allein führt nicht weiter. In Deutschland wurden Studiengebühren Ende der 60er Jahre aus guten Gründen abgeschafft. Wer den „Sündenfall“ der Kindergartengebühren als Argument für die Wiedereinführung von Studiengebühren heranzieht, der müsste - um bei dieser Logik zu bleiben – auch für die Wiedereinführung von Schulgeld und Lehrgeld bei der beruflichen Bildung eintreten. Viele Ältere werden sich noch unliebsam daran erinnern. Wir wollen aber keinen sozialen Rückschritt.
Die Finanzdebatte über Steuern, Gebühren und zusätzliche Belastungen für Eltern und die junge Generation sind Bestandteil eines neokonservativen Diskurses. Der Ruf nach Studiengebühren ist zu verstehen als Neuaufguss einer alten Argumentation. Alle Gründe, die 1992 dazu führten, die 11. These des Wissenschaftsrates mit der Forderung nach Studiengebühren ersatzlos zu versenken, gelten nach wie vor.
Im übrigen: 500 € Studiengebühren pro Semester – das macht rund 14 Prozent des studentischen Einkommens im Halbjahr aus. Warum kommen gut verdienende Befürworter von Studiengebühren nicht auf die Idee, selbst 14 Prozent ihres Einkommens als „Solidaropfer“ freiwillig ihrer ehemaligen Hochschule zukommen zu lassen?
Sebrau - 29. Nov, 15:22
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